Es ist kurz vor 18 Uhr. Der Saal im Kleinen Schauspiel Oberammergau füllt sich an diesem Samstagabend: Und zwar überwiegend mit jungen Männern, die auffallend lange Haare und Bärte tragen. Ein Treffen junger Liebhaber der 1960er und -70er Jahre? Hippies unter sich?
Keine Spur. Der Blick ist nicht in die Vergangenheit gerichtet, sondern in die Zukunft: auf die Passionsspiele, die im Mai Premiere haben. Und dafür gilt der Bart- und Haarerlass, demzufolge sich die Mitwirkenden seit Aschermittwoch 2019 wachsen lassen, was wächst. Ein Blick in die Runde bei dieser ersten Leseprobe fällt aber auch auf Männer, die glatt rasiert sind: die Darsteller der Römer. Manch einer, der nicht anderthalb Jahre zauselig ins Büro gehen will, hat sich bewusst als Römer beworben.
Mehr als 2000 Spieler
Egal, ob Jude oder Römer, alle sind gespannt auf den Text, den sie zum ersten Mal sehen und lesen werden. Rund 150 Frauen und Männer, die eine Sprechrolle haben, sind zur Leseprobe gekommen. Insgesamt wird sich fast die Hälfte der 5200 Einwohner Oberammergaus an der Passion beteiligen. 1830 Erwachsene machen von ihrem Spielrecht Gebrauch, dazu etwa 500 Kinder. Mitwirken darf jeder, der in Oberammergau geboren ist oder seit 20 Jahren dort wohnt.
Die Grundlage für den Text der Passionsspiele legte Pfarrer Joseph Alois Daisenberger um 1860. Aber diese Fassung wird immer wieder überarbeitet. Christian Stückl inszeniert seit 1990, also jetzt zum vierten Mal – und gewinnt jedes Mal einen neuen Blick auf das Geschehen. Die aktuelle Fassung wurde erst am Vorabend der ersten Leseprobe fertig. Und der Regisseur lässt keinen Zweifel daran, dass er sich im Laufe der Proben noch manche Nacht um die Ohren schlagen wird, um weiter am Text zu arbeiten.
Seine Inszenierung betrachtet Stückl als eine Stufe in einem langwierigen Prozess, der für ihn vor 30 Jahren angefangen hat. Damals, 1990, begann die Aufführung mit dem Jesus, der die Händler aus dem Tempel treibt. Der 1884 in München geborene jüdische Schriftsteller Lion Feuchtwanger hatte schon früher bemerkt: „In Oberammergau stirbt Jesus, weil er sich mit den Kleingewerbe Treibenden angelegt hat.“